Erfurt. Eigentlich wollte die Ärztin ihre Praxis stets ab 8.30 Uhr öffnen. Aber weil zu dieser Zeit bereits oft diverse Patienten vor der Tür warteten, beschloss sie, bereits um 6 Uhr mit der Arbeit zu beginnen. Jetzt erhielt die Medizinerin für ihr besonderes Engagement die Quittung. Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) habe ihr allein für 2006 eine Rückforderung in sechsstelliger Höhe geschickt, berichtet der Gesundheitsexperte der SPD-Landtagsfraktion, Thomas Hartung. Weil sie die Arbeitszeit und Zahl der Patienten überschritten habe.
Dabei will Hartung keineswegs die KV attackieren. "Ich gehe davon aus, dass die Bescheide alle vom Gesetz gedeckt sind, aber sie konterkarieren die Bemühungen, ärztlichen Nachwuchs zu bekommen." Aus seiner Sicht stellt die Einschränkung der Behandlungszeiten durch so genannte kostendämpfende Maßnahmen der Krankenkassen eines der größten Probleme dar. Die vor allem im ländlichen Raum entstehenden Versorgungslücken könnten durch das eng begrenzte Zeit- und Kostenbudget pro Patient eher vergrößert als geschlossen werden.
Die FDP hält Ausführungen unterdessen für unausgegoren. "Es ist schon erstaunlich, dass sich die SPD nach und nach von den Gesetzen, die sie in elf Jahren Regierungszeit geschaffen hat, verabschiedet", sagte der Landtagsabgeordnete Marian Koppe. Jetzt auf die Budgetierung zu schimpfen, die man in den zehn Jahren mit mit Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt bundesweit eingeführt hat, sei abenteuerlich.
Den parteilosen SPD-Fraktionär und Chirurgen Hartung lassen diese Attacken kalt. Er setzt sich für eine Entbürokratisierung des Medizinerberufs ein. Da der drohende Ärztemangel in Thüringen Umfragen zufolge noch nicht spürbar sei, gebe es noch genügend Zeit für eine Reform.
Nach Schätzungen der Kassenärztlichen Vereinigung fehlen im Freistaat bereits 500 Ärzte. Krankenhäuser und Arztpraxen hätten gleichermaßen unter dem Mangel zu leiden, heißt es. Bis 2020 wird davon ausgegangen, dass aus Altersgründen allein etwa 1600 Praxisärzte ihre Tätigkeit aufgeben.
Hartung fordert die Ausbildung der Ärzte den veränderten Bedürfnissen anzupassen. In den kommenden 20 Jahren werde der Altersdurchschnitt der Thüringer um zehn Jahre auf Mitte 50 steigen. Was zur Folge habe, dass mehr Augenärzte und Urologen, aber weniger Frauen- und Kinderärzte benötigt würden.
Für die Praxisnachfolge der Thüringer Medizinerin, die mit den enormen Nachforderungen konfrontiert wird, sieht es Hartung zufolge übrigens nicht gut aus. Eine Weiterbildungsassistentin, die bei ihr arbeite, habe jetzt hautnah erleben dürfen, dass man dafür bestraft wird, wenn man sich ordentlich um seine Patienten kümmere.


28.04.2011 TLZ - Thüringische Landeszeitung